#26 Rennsteig-Supermarathon oder wie sich Geist und Körper voneinander trennten!

„Diesen Weg auf den Höh’n bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder! Bin ich weit in der Welt habe ich Verlangen, Thüringer Wald nur nach dir.“ Rennsteiglied

13.05.2023. 50. Rennsteiglauf. 73,9 km. 6 Stunden 07 Minuten 47 Sekunden. Gesamtplatz 18. Rund 1800 Höhenmeter. Von Eisenach nach Schmiedefeld. Diese Zahlen lesen sich einfach fabelhaft und man könnte fast meinen, ich wäre routiniert auf dem Wanderweg des Rennsteiges entlang gewandert. Mein Kopf sagt was Anderes – es herrscht komplettes Gefühlschaos und ich bin immer noch auf Wolke 42!

Aber nach 5,5 Jahren ohne Blog versuche ich erstmal wieder einen gescheiten Einstieg zu finden und meine Gedanken so gut wie möglich zu sortieren. In diesem Sinne…3, 2, 1!

Corona-Tief ohne Wettkämpfe, ohne Ziele. Umzug von Chemnitz nach Leipzig. Challenge Roth und meine erste Langdistanz im Triathlon. Innere Frieden mit dem Frankfurt Marathon im Herbst. Kyffhäuser Berglauf. Leipzig Marathon im Frühjahr. Es gab einige Wettkämpfe, die einen Blog wert gewesen wären. Aber irgendwie hat dieses gewisse extra gefehlt. Emotionen. Leidenschaft. Diese Verwirrtheit im Kopf nach einem Wettkampf…

Was könnte es also Schöneres geben, als zum 50. Jubiläum des Rennsteiglaufes wieder etwas in die Welt zu setzen?! Ungefähr so müssen auch meine Gedanken Anfang November 2022 ausgesehen haben, als ich mir selber die Teilnahme am Supermarathon schenkte. Keine Ahnung, wie ich diese Entscheidung getroffen habe, aber zurechnungsfähig kann ich zum Zeitpunkt der Anmeldung nicht gewesen sein – sei es drum!

Der Motivation hat es definitiv geholfen, da ich lauftechnisch wieder sehr nahe an mein Niveau aus den Jahren 2016/17 rankam. Februar, März und April mit fast 500 Lauf-Kilometern pro Monat. Zweimal 52- und einmal 62-km-Läufe im Training. 24mal den Leipziger Fockeberg hoch und runter, um auf 42,2 km mit 1000 Höhenmetern zu kommen. Zweiter Gesamtplatz beim Kyffhäuser Berglauf 42,2 km. 2.40h beim Leipzig Marathon. Besser hätte es kaum laufen können – sprichwörtlich!

Und dennoch – der Respekt vor dem Rennsteig-Supermarathon war enorm. Weiter als 62 km im Training im flachen Leipziger Seenland bin ich noch nie gelaufen. Aber genau dieser Respekt sollte mir den Weg zu einem absoult spektakulären und einbrennenden Erlebnis verhelfen.

12. Mai 2023. Zu Viert aus Chemnitz Richtung Thüringen gestartet um direkt erstes Rennsteig-Feeling auf dem Eisenacher Markt aufzusaugen. Abholung der Startnummern. Und bääääm…direkt der erste grobe Fehler der Vorbereitung: es gab für jeden Starter kostenlos Thüringer Klöße mit Rotkraut und Gulasch! Mein Kopf sagte nein, mein Magen ja. Wer das Duell wohl für sich entscheiden konnte? Mit ungewohnter Ernährung vor solch einem Wettkampf in die Nacht zu gehen, war gewagt. Aber ja, ich liebe bekanntlich das Risiko! Die ersten bekannten Gesichter aus Leipzig und Chemnitz gesichtet. Zum Glück war mein Umfeld relativ ruhig und gelassen (zumindest wirkte es so), weshalb ich auch ziemlich schnell zur Ruhe kam…

13. Mai 2023. 4 Uhr. Der Wecker klingelte. Endlich. Seit 2 Stunden lag ich wach da und habe darauf gewartet endlich aufspringen zu können. An Schlaf war längst nicht mehr zu denken. Habe ich alles? Was ziehe ich an? Wird es regnen? Genug Gels dabei? Bei welchen Kilometern sind eigentlich die Verpflegungssstationen? Die Nervosität war innerlich da. Äußerlich war ich dennoch so ruhig wie selten zuvor vor einem Wettkampf dieser Größenordnung. Ein doppeltes Brötchen mit Marmelade. Einen Kaffee. 400ml Wasser. Die Verdauung lief gar nicht. Der Kaffee sprang überhaupt nicht an. Das Rotkraut! Gut gemacht.

5.25 Uhr. Ankunft in Eisenach. Einlaufen. Lauf-ABC. Normalerweise ja. Heute nein. War eben kein normaler Tag. Irgendwie die ganze Zeit nur gequatscht bzw. zugehört. Das wirkte meditativ. Und irgendwie war mir in dem Moment alles egal. Seltsam. Kurz vorher dann doch nochmal fix los. Kleiderbeutel abgegeben. Der sonst übliche Toilettengang blieb mir abermals erspart. Ohje. 5 Minuten Einlaufen. Bisschen Alibi-Lauf-ABC. Ich war selten so tiefenentspannt.Zurück zum Start. Ach da, Julian und Antonia. Gleich nochmal eine Runde quatschen. Rennsteiglied lief. „Vögel sangen Lieder!“ Noch eine Minute bis zum Start. Eine Kamera war direkt auf mich gerichtet. Kurzer Blick nach hinten. „Warum stehen wir eigentlich vor dem Absperrband des Starterfelds?“ „Weil wir die Elite-Läufer sind!“ (Zitat Julian) Ach, klar. Ja. Start.

6.01 Uhr. Unpünktlich. So was aber auch. Noch konnte ich es nicht so wirklich fassen, dass ich mich gerade auf der Strecke und im Starterfeld des 50. Rennsteig-Supermarathons befand. 73,7 km. 73,7 km! Uff.

Diese Zahl verdrängte ich erstmal. Kilometer 25 war das erste Teilziel. Großer Inselsberg. Mein Spickzettel mit Angaben zu den Höhenmeter und dem anvisierten Tempo jeden Kilometers sagte mir: „Gehe langsam an!“ Auf diesen ersten Kilometern sollten wir von 200 auf etwa 900 Höhenmeter wandern. Wie lange würde dieser Spickzettel eigentlich seine Daseins-Berechtigung erfüllen? Wann würde er aufweichen und keinen Bock mehr auf diesen Blödsinn haben? Und wann hätte ich genug von diesem Balast und würde mich von der Last des Extra-Gewichts trennen?

Zumindest für den Kopf war mir diese Hilfe wichtig. Ähnlich einem Spickzettel in der Schule (Grüße gehen raus an meine ehemaligen Lehrer! 🙋‍♂️) schaut man selten drauf, aber er gibt einem die nötige Sicherheit. Nach 7 km wurde der offizielle Rennsteig-Wanderweg erreicht. Ab jetzt war ich im Thüringer Wonderland unterwegs und…hatte nur noch 67 Kilometer vor mir. 67 km! Da war sie wieder diese Zahl. Bis hierhin verlief der Wettkampf unspektakulär. Ich lief mein Tempo. Lies mich von niemanden aus der Ruhe bringen. Die Gruppe, in der ich zu dem Zeitpunkt lief, war allerdings absolut inhomogen. Bergauf zogen alle davon. Bergab überholte ich wieder alle und erarbeitete mir einen Vorsprung. Jedes mal aufs Neue. Hoffentlich ist dies bald vorbei. 67 km!

Die Gruppe war hinter mir. Auf einem längerem Bergab-Stück holte ich mir den gewünschten Vorsprung und war nun allein mit mir. Auch wenn es auf der Strecke immer wieder kurzzeitige Begleitungen gab – ab etwa Kilometer 10 war ich definitiv allein mit mir unterwegs. Ich konnte relativ früh in mich hinein hören und erste Schlüsse ziehen. Magen/Verdauung könnte zu großem Problem werden. Es rumpelte vor sich hin. Puls war absolut im grünen Bereich ohne Ausreißer bergauf. Die linke Wade meckerte ab Kilometer 7 vor sich hin. Nach einem etwas ausführlicheren Dialog zwischen Gehirn und linker Wade beruhigte sich diese allerdings und war fortan ruhig gestellt. Laufen. Einfach laufen. Das was ich am besten kann. Bäume. Wald. Kurz bergab. Lang bergauf. „Vögel sangen Lieder!“

Die Verpflegungsstationen wurden für mich zu einer immer höheren Herausforderung. Ich ging immer von der Reihenfolge Wasser, Tee, Cola aus. Aber hatte mittlerweile schon öfter das falsche Getränk in der Hand, was es für meinen Magen zu einer immer größer werdenden Herausforderung machen sollte. Ich nahm mir vor, das Tempo an den Stationen zu drosseln und zwang mich zu höherer Konzentration.

Kilometer 22. So langsam sehnte ich mich nach dem Inselsberg. Davor sollte es einen der steilsten und schwierigsten Anstiege der Strecke geben. Danach eine technisch anspruchsvolle Bergab-Passage. Ich konnte die Bergauf- und Bergab-Passagen mittlerweile aber nicht mehr so wirklich kategorisieren. Zu sehr bin ich bereits an das Leipziger Flachland gewöhnt und und verfluchte mittlerweile selbst jeden noch so kurzen Anstieg. Meine Oberschenkel gaben mir bereits zu verstehen, dass sie sich das nicht mehr lang mit anschauen werden. Noch 52 Kilometer!

Kilometer 25. Großer Inselsberg. Da war er. Erstes Teilziel geschafft. Eine einminütige Toilettenpause. Paar muskuläre Oberschenkelprobleme. Puls in einem super Bereich. Aber im Kopf war ich schon zermürbter als erwartet. Nur noch 48 Kilometer!

Nächstes Teilziel im Kopf war Kilometer 37. Halbzeit auf der Ebertswiese. Ab dem Inselsberg sollte es etwas einfacher werden, da die Strecke nun „nur noch wellig“ statt „stetig bergan“ weiter gehen sollte. Theorie und Praxis unterscheiden sich aber faktisch immer. Ich war echt schon ordentlich angeschlagen. Für einen Marathon ok. Für einen Ultra hart. Wetter war super. Durch meinen niedrigen Puls und der Zurückhaltung in Sachen Wettkampf-Tempo fror ich teilweise sogar. Aber alles zu ertragen. Bloß kein körperlicher Einbruch. Tempoerhöhung wäre aktuell noch möglich gewesen. Aber ich sprach mir ein Verbot aus. Die Vernunft war an diesem Tage Herr der Lage. Danke dafür! Ansonsten war die Untertstützung an der Strecke super. Immer wieder die Chemnitzer-Kilian-Family, die mich auch tatkräftig unterstützte und die nahezu mehr Kilometer abspulten als ich selbst. Respekt dafür und vielen Dank! Viele bekannte Leipziger und Chemnitzer Gesichter. Noch konnte ich es genießen – den Umständen entsprechend. Aller paar Jubeljahre kam an der Strecke ein Akkordeon- oder Keyboard-Spieler, der sich einen Sänger gesucht hatte und das Rennsteiglied sang. Zufälligerweise erwischte ich dabei jedes Mal meine Lieblings-Text-Passage „Vöglein sangen Lieder“. Oder war es gar kein Zufall? Ich musste auf jeden Fall jedes mal grinsen. 🙂

Kilometer 37. Bereits zweite Toilettenpause über etwa eine Minute hinter mir. Aber der Magen war überraschend ruhig. Doch diese Pausen gönnte ich mir. Ich hatte alle Zeit der Welt und überhaupt keinen Druck – wobei…zumindest zeittechnisch nicht. Nun begann auf jeden Fall der Rennsteig-Supermarathon erst so richtig. Plötzlich wurde es ein komplett anderer Lauf! Nur noch 37 Kilometer!

Kilometer 37. Klappe die Zweite. Halbzeit. 2.58 Stunden. Wenn man bedenkt, dass der zweite Streckenabschnitt weniger Höhenmeter hatte, lag ich richtig gut im Rennen. Aber ab jetzt begann die nervige Phase, in der jeder Zuschauer und Motivator an der Strecke meinte, „du hast es gleich geschafft. Über die Hälfte ist absolviert!“ Beim ersten Mal noch ok. Beim zweiten Mal schon weniger ok. Beim dritten Mal gar nicht mehr ok. Das soll keine Kritik an die Zuschauer darstellen – nicht falsch verstehen. Aber mein Kopf war jetzt völlig falsch unterwegs und ich haderte extrem mit mir. Ich malte mir Szenarien aus, in denen ich ab jetzt echt komplett nur noch wandern würde. Ich hatte einen Hänger. Nur noch 37 Kilometer!

Nächstes Teilziel – Marathon bei Kilometer 42. Aber diese 5 Kilometer waren zu diesem Zetipunkt ein zu großes Teilziel. Ich war zermürbt. Kopf und Körper entfernten sich. Ich hatte nicht mehr viel zu melden und war nicht mehr Herr meines Körpers. Er schien in anderen Sphären unterwegs zu sein als mein Kopf. Kompletter Kontrollverlust. Warum ich solche Extremsportarten liebe? Genau aus diesen Gründen! Das Kennenlernen von Extremsituationen. Von Situationen, die null berechenbar sind und in denen man seinem Körper völlig hilfos ausgeliefert ist. Ich hatte damit gerechnet, dass dieser Moment früh genug kommen würde. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass er bereits vor dem 40. Kilometer kommen würde.

Kilometer 40. Übergangsphase vom totalen Kontrollverlust zum kontrollierten Kontrollverlust. Ich beschloss, ab nun jeden längeren und steileren Anstieg aus Kraftgründen zu wandern. Warum? Dadurch, dass ich meinen Körper nicht mehr im Griff hatte – ich weiß wie seltsam das für einen Außenstehenden klingen mag -, wollte ich das Risiko vermeiden, Krämpfe zu bekommen. Es war noch ein weiter Weg und ich entschied, das Risiko zu minimieren. Natürlich war das ein schmaler Grat, da mein Kopf auch schon nicht mehr so richtig wollte und ich mich immer wieder zwingen musste, nicht zu lange zu wandern. Nur noch 34 Kilometer!

42,2 Kilometer! Etwa 3.24 Stunden. Wie gerne wäre ich hier am liebsten stehen geblieben. Marathon – ich liebe dich doch! Aber nein. Nicht heute. Weiter. Immer weiter. Nur noch 32 Kilometer!

Die nächsten Teilziele waren 45 Kilometer. 50 Kilometer. 54 Kilometer. Dies war eine wichtige Schallmauer, da dies bisher meine längste im Wettkampf gelaufene Distanz war. Ab jetzt war alles Zugabe. Wetter top. Magen top. Dritte Toilettenpause eingelegt gehabt. Körper macht sein Ding und funktioniert. Anstiege wandern erwies sich als gute Entscheidung. Paar Läufer haben mich überholt. Paar Läufer habe ich überholt. Publikum rief mir immer zu, ich wäre in den Top15 unterwegs. Das war mir allerdings völlig egal. Auch war es mir egal, dass es bis zum Ziel nicht mehr weit sein würde und ich über die Hälfte gepackt hätte. Schöner war, dass die Vögel auch immer noch ihre Lieder sangen.

Kilometer 55. Kilometer 56. Kilometer 57. Kilometer 58. Es zog sich. Wie Kaugummi. Nur schlimmer. Viel schlimmer. „Weiter so. Du hast es fast geschafft!“ vs. „Vögel sangen Lieder!“. Kopfkino. Körper im anderen Universum. Noch 16 Kilometer.

Seit Kilometer 37 fühlte sich jeder Kilometer gleich an: qualvoll! Ich war nicht mehr in der Lage Kilometer 39 von Kilometer 54 zu unterscheiden. Habe ich mich überhaupt weiter bewegt? Was ist passiert? Bin ich bald da? Singen die Vögel wirklich noch? Habe ich diesen Baum heute nicht schonmal gesehen? Wie kann Kilians-Familie einfach überall an der Strecke mit dem großen „Kilian“-Schild auftauchen? Wo sind die anderen Läufer/innen? Gehts denen genau so?

Irgendwo bei Kilometer 55 lief ich für ein paar Minuten mit dem von hinten heranstürmenden Dominik zusammen. Er nahm letztes Jahr bereits beim Super-Marathon teil und seine Frau trainiert für Challenge Roth. Ich wies ihn aber darauf hin, dass wir das doch bitte im Ziel in Ruhe ausdiskutieren könnten. Ich war schon überfordert mit mir allein. Auch hier minimierte ich einfach das Risiko. Wenn was funktionierte, dann war es mein Körper. Mein Puls war immer noch extrem konstant und bewegte sich nicht mal annähernd Richtung roten Bereich. Ich war auch nicht gewollt, dies durch Diskussionen auf der Strecke aufs Spiel zu setzen. Von der Gefahr des Seitenstechens mal ganz zu schweigen.

Kilometer 58-62. Definitiv der härteste Part des Rennens. Es ging zum höchsten Punkt der Strecke, dem Großen Beerberg. Hier musste mein Kopf ordentlich abliefern. Aber auch zu diesem Zeitpunkt war das immer noch jammern auf allerhöchstem Niveau. Ich war mir mittlerweile sicher, dass es allen so gehen würde. Wäre dies nicht der Fall gewesen, dann wäre ich eingesammelt worden und wäre nicht mehr in den Top15-Platzierungen unterwegs. Ich sah nun auch aus dem Nichts kommend ein LG-exa-Leipzig-Trikot vor mir wandern und überholte den erschöpften Julian. Allerdings direkt an einem Anstieg, bei dem ich selber auch wieder ins Wandern überging. Da ich nur 10m vor ihm zum stehen kam, lief er die Lücke zu und meinte, unbedingt mit mir über Sternburg reden zu wollen. Nach kurzem Austausch unserer wehwechen – schließlich sind wir nicht mehr die Jüngsten – zog ich weiter. Nur noch 12 Kilometer.

Kilometer 62. Ab jetzt sollten nicht mehr viele Anstiege kommen und man konnte fast ins Ziel fliegen, da viele Bergab-Passagen. So die Theorie. Praktisch sollten die Muskeln allerdings nicht mehr allzu viel zu lassen. Ich wurde deshalb auch nochmal von 4 bis 5 Läufern überholt, was mir aber egal war. Ich wollte nur noch ankommen und war auf einem sehr guten Weg. Außerdem war auch gar keine Tempoverschärfung mehr drin. Wetter super. Puls super. Magen war die Überraschung des Tages. Aber die Beine waren ausgeknocked. Energie war keine mehr da. Ich lief auf absoluter Sparflamme. 4.30 Minuten/Kilometer bei über 60 absolvierten Kilometer muss man auch erstmal durchziehen können. Auf meinen Körper war Verlass und ich zog meine Linie durch: kein Risiko eingehen! Lass sie überholen! Lass sie machen! Ich laufe hier für mich! Allein!

Emotionen. Ab jetzt war ich aber auch nicht mehr Herr meines Kopfes. Alles schien sich von mir zu verabschieden. Ich war nun auf einer neuen Ebene des Kontrollverlustes. Dem nächsten Level des Ultralaufes. Irgendwo. Im Nirgendwo. Auf den letzten etwa 12 Kilometern kamen die Wanderer und Nordic Walker auf die Strecke. Statt allein waren nun Tausende Leute auf der Strecke. Einer rief meist „Achtung Läufer!“, alle anderen gingen an den Rand, machten eine La-Ola-Welle und klatschten einfach nur wie wild. Viele boten jetzt auch Schnaps oder sogar Cola-Wodka an – „wenn du kurz stehen bleibst, bekommst du einen Cola-Wodka to go!“. Oder: „Hier, nimm kurz einen Schluck Pfeffi, dann fliegst du ins Ziel!“. Dies gemischt mit den ständigen „Gleich geschafft!“-Sprüchen, die ich mir nun seit 30 Kilometern oder 2,5 Stunden anhören durfte, brachten mich völlig aus der Fassung. Glückshormone vs. Stress vs. Erschöpfung. Ich hatte Tränen in den Augen. Positive Emotionen bei den La-Ola-Wellen, negative Emotionen bei den „Gleich geschafft!“-Sprüchen und der körperlichen Verfassung. Es war wohl ein Zwischending zwischen Freudentränen und echten weinenden Tränen. Einer meiner krassesten Momente, die ich jemals bei einem Wettkampf und wohl auch in meinem sonstigen Leben durchlebt habe. Ein Wechselbad der Gefühle und ich konnte einfach nichts dagegen unternehmen. Einfach nur weiter laufen und hoffen, irgendwann im Ziel anzukommen und wieder Herr der Lage zu werden.

Kilometer 73,7. Der Rennsteiglauf-Bogen. Der dahinterliegende Campingplatz. Die Stimme der Moderatorin. Das Publikum. Die Tränen. Die Gefühle. Ich genosss es so, wie man eben einen Lauf nur genießen konnte, wenn man über 6 Stunden Zeit zum Nachdenken hatte. In dem man nicht wusste, was einem die Gefühle eigentlich sagen wollen. Ich war im Ziel. Als 18. Gesamt. In 6.07 Stunden.

Das interessante an so einem Tag ist allerdings – man läuft über die Ziellinie und mit einem Schlag ist alles vergessen – welche Qualen man auf den letzten 40 Kilometer erlitten hat. Wie brutal die letzten 6 Stunden waren. Ich trank und aß. Saß paar Minuten da. Habe viel gesprochen. War duschen. Bei der Massage. Und schon war ich gefühlt wie neu geboren. Körper und Geist waren wieder da.

Am Ende des Tages waren wir noch bis 21 Uhr im Partyzelt und wollten gar nicht wieder aufhören mit Tanzen. Das Schwarzbier lief auch richtig gut (erwähnte ich schon den Sekt und den Eierlikör? Egal!). Die Party im Zelt nach einem 4-Uhr beginnenden Tag ist schon der Hammer und ein absolut unvergesslicher Abschluss. Jeder in diesem Zelt hat seine eigene Story des Tages zu erzählen. Jeder in diesem Zelt hat irgendwo auf dem Rennsteig gelitten und Nerven gelassen. Deshalb zum Abschluss noch meine persönliche Story des Tages, die es ganz gut zusammenfasst:

Massage nach der Zieleinkunft. Zwei Frauen – eine knetete an meinem linken, die Andere an meinem rechten Bein herum. Dialog während meine rechte Wade demontiert wurde:

„Lachst du, weil du dich freust oder weil du Schmerzen hast?“
„Weil ich Schmerzen habe!“
„Ich mag es, wenn du lachst!“

In diesem Sinne – mäh- & sportfrei und lebt eure Träume!